Mehr Wissen, mehr Tierwohl

Wie wirken sich Umwelteinflüsse auf die Gene aus? Dieser Frage geht die Wissenschaft der Epigenetik nach. Bei Evonik hat ein Team um Florian Böhl ein Verfahren entwickelt, um das biologische Alter von Hühnern präzise zu bestimmen.

Jede Menge farbige Felder, scheinbar chaotisch aneinandergereiht – das Muster auf dem Computerbildschirm von Dr. Florian Böhl erinnert an einen Flicken­teppich. In Wahrheit zeigt es bunt auf weiß Millionen Messergebnisse, die aus dem DNA-Strang eines Huhns gewonnen wurden. „Zuerst dachte ich, im Bereich Tierdiagnostik sei schon alles entdeckt“, sagt der Biologe und Betriebswirt, der nach Stationen in Schweden, Deutschland, England und der Schweiz seit sechs Jahren bei der Creavis arbeitet. In dieser Einheit übersetzt Evonik Zukunftstechnologien in neues Geschäft. „Doch als ich genauer hinschaute, entdeckte ich die weißen Flecken auf der Landkarte. Das ließ mein Forscher­naturell zutage treten.“

Als vor 20 Jahren das menschliche Genom entschlüsselt wurde, war das eine Sensation. Es schien, als wäre damit über die Gene alles bekannt. Doch das war ein Irrtum. Heute ist klar, dass nicht allein die DNA entscheidet, wie ein Lebewesen aussieht und wie es sich verhält. Seine Umwelt wirkt sich auf die Gene aus – und damit auf das Erscheinungsbild, das Verhalten und die Geschwindigkeit des Alterns. Dieser Einfluss ist so gravierend, dass die Veränderungen an Folgegenerationen vererbt werden. Wissenschaftler nennen das Epigenetik. Während sich die einen mit der Epigenetik des Menschen beschäftigen, enträtseln andere die DNA von Flusskrebsen oder Wildtieren. Florian Böhl haben es die Hühner angetan. Mit Kollegen an verschiedenen Standorten entschlüsselt der 49-Jährige mit seinem Team epigenetische Muster des Federviehs. Sein Ziel ist es, in der Creavis neue Technologien zu entwickeln, die dazu beitragen, das Tierwohl zu verbessern, die Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten und die Fleischproduktion zu optimieren. „Gesunde Hühner liefern besseres Fleisch“, sagt Böhl. „Schon deshalb sollte es den Tieren vor der Schlachtung möglichst gut gehen.“

Umwelteinflüsse bewirken das Anheften oder Abkoppeln von Methylgruppen am DNA-Strang. Je nach Anzahl und Verteilung entsteht daraus ein ganz charakteristisches Muster.

 

AM ANFANG WAR DAS HUHN

Dass er sich vorrangig mit Hühnern beschäftigt, liegt für den Biologen auf der Hand: Als Fleischlieferant steht ­Geflügel neben dem Schwein weltweit an der Spitze. Jeweils 15,6 Kilogramm isst jeder Mensch im Schnitt pro Jahr, aber nur 9,1 Kilo Rind. 2019 wurden 25,9 Milliarden Hühner als Nutztiere gehalten, 80 Prozent mehr als im Jahr 2000. „Auf der ganzen Welt essen die Menschen Hühnchen“, sagt Böhl. „Ein Schwein dagegen kann man in muslimisch geprägten Regionen schlecht verkaufen, ebenso wenig wie ein Rind in Indien.“ Dazu kommt die effiziente Futterverwertung: Um dieselbe Menge Fleisch zu bilden, benötigt ein Huhn erheblich weniger Futter als etwa ein Rind. „Zudem ist Hühnerfleisch fettarm und gesünder als das vieler anderer Tiere.“

Gesunde Ernährung liegt im Trend. Und die Frage, wie man diesen Trend in der Tierhaltung mitgestalten könnte, stellte Böhl sich schon vor Jahren. Doch wie lässt sich prüfen, wie es einem Huhn gerade geht? Den Stresshormonspiegel im Blut messen? Zu ungenau für den Biologen. Er erinnerte sich an seine Zeit an der Universität Cambridge, und es kam ihm eine Idee: „Als Zellbiologe habe ich mich damit befasst, wie man Gene stilllegt oder aktiviert.“ Böhl, der in seiner Anfangszeit an Bäckerhefe und Fruchtfliegen geforscht hatte, beschloss, dieses Wissen nun an Masthähnchen anzuwenden – im Spezialgebiet der Epigenetik.