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Aus der Slowakei in neue Welten

Unter Forschern gelten Rhamnolipide schon lange als hochbegabte Multitalente. Evonik ist es weltweit erstmals gelungen, diese Stoffe hochrein auf biologischer Basis im großen Maßstab zu produzieren. Der Durchbruch öffnet den Weg zu einer Vielzahl nachhaltiger Innovationen.

Der Weg in neue Welten führt durch ein idyllisches Tal in der Mitte der Slowakei. Hier, am Fuße der Niederen Tatra, hat Evonik Ende Mai seine neue Produktionsanlage für Rhamnolipide eröffnet. Umgeben von Natur und nahe des Flusses Hron, ist das Werk die weltweit einzige Anlage, die Rhamnolipide in hoher Reinheit im industriellen Maßstab herstellen kann. Evonik setzt auf den Standort im slowakischen Slovenská Ľupča, weil das Werk dort schon eine jahrzehntelange Erfahrung mit Fermentationsverfahren hat. Dieser biologische Produktionsprozess ist der Schlüssel zur nachhaltigen Produktion der besonderen Lipide.

Man begann nicht bei null: Die verwandten Sophorolipide werden hier schon länger hergestellt. Sie waren die ersten mikrobiologischen Biotenside, die auf den Markt für Schönheits- und Körperpflegeprodukte kamen. Mit dem Bau der Produktionsanlage für Rhamnolipide haben die Forscher, Entwickler und Anlagenbauer von Evonik erfolgreich Neuland erobert. Nun geht es darum, die zahlreichen Anwendungen zu erkunden, die dieses Produkt ermöglicht.

Weder fossil noch tropisch
Doch was macht den Stoff so besonders? Rhamnolipide zählen, wie die Sophorolipide, zu den Glykolipid-Tensiden. Sie werden auf natürliche Weise – durch Fermentation – von Bakterien produziert, welche am Ende des Herstellungsprozesses aus dem produzierten Material wieder entfernt werden. Als Biotenside für Handgeschirrspülmittel bieten sie beispielsweise eine außergewöhnliche Kombination von Reinigungsleistung und Mildheit sowie eine hohe Verträglichkeit mit Haut und Wasserorganismen.

Dazu kommt: Anders als bei etablierten Tensiden sind weder fossile Kohlenstoffe noch tropische Öle als Rohstoff nötig. Hergestellt werden Rhamnolipide einfach aus Zucker mit Hilfe von Bakterien aus der Familie Pseudomonas putida in einem einmaligen und hocheffizienten Prozess. Diese Eigenschaftskombination ist es, die den Rhamnolipiden Wege in zum Teil völlig andere Märkte öffnet. „Rhamnolipide sind nicht nur einfach ein neues Biotensid“, sagt Lisa Maus, „sie haben vielfältige positive Eigenschaften, die in der Forschung seit Jahrzehnten bekannt sind. Man konnte sie aber bisher nie großtechnisch in hoher Reinheit herstellen.“ Maus ist bei Evonik Director Strategy im Geschäftsbereich Care Solutions und plant die strategische Entwicklung der Technologie. Hierbei koordiniert sie unter anderem den Zugang zu den neuen Absatzbereichen. „Die Kombination von Haut- und Umweltverträglichkeit mit hoher Reinigungskraft ist extrem selten und hochinteressant“, ergänzt Stefan Liebig, der als Technischer Manager am Evonik-Standort Goldschmidtstraße in Essen an der Erforschung der Anwendung der Biotenside arbeitet.
 

Kraft der Mizellen
Das Wirkprinzip der Tenside ist im Grunde einfach. Sie bestehen aus hydrophilen, also Wasser liebenden, und lipophilen, also Fett liebenden Teilen. Daher ordnen sie sich deshalb in Wasser in einer speziellen Ordnung an: hydrophil nach außen, lipophil nach innen – in dieser Anordnung bilden sie oberhalb einer bestimmten Konzentration, der CMC (critical micelle concentration), eine Mizelle. Beim Spülen haftet sich etwa der fettliebende Teil an den Schmutz, der hydrophile ans Wasser. So bleibt der fettige Schmutz im Spülwasser und Teller und Gläser kommen sauber heraus.

Die herausragenden Eigenschaften der Rhamnolipide in puncto Waschkraft sorgten dann auch für deren ersten großen Schritt auf den Markt. In Geschirrspülmitteln haben sie sich schon mehr als bewährt. Rhamnolipide sind besonders gut schäumende Tenside, auch das macht sie für solche Anwendungen sehr geeignet. Doch was im Spülmittel erwünscht ist, kann bei der Produktion zu einer Herausforderung werden. Denn die Bakterien benötigen in der Fermentation Luft. Wird sie durch die Fermentationsflüssigkeit geblasen, würde üblicherweise etwas entstehen, das die Evonik-Fachleute ironisch mit dem Ausdruck „Schaum-Party“ betiteln. Doch Schaum lässt sich in Anlagen nur schwer kontrollieren. Den Experten der Evonik gelang es, diesen Punkt zu lösen und den Prozess in den industriellen Maßstab zu transferieren.

Bereits preisgekrönt
Auch im Bereich der Kosmetik werden die Rhamnolipide bereits eingesetzt. Das Produkt namens RHEANCE® One gewann auf der Leitmesse „in-cosmetics international“ in Paris einen Gold-Award. Evonik-Fachmann Stefan Liebig verweist auch hier auf den doppelten Vorteil in der Anwendung: „Mit unseren Rhamnolipiden geben wir unseren Kunden die Möglichkeit, die Konsumenten mit ebenso leistungsstarken wie nachhaltigen Reinigungs- und Pflegemitteln zu versorgen.“

Aufgrund der sehr sanften Pflege der Haut sind Gesichtsreiniger, Shampoos oder Baby-Pflege-Mittel mögliche Einsatzbereiche. Auch Hersteller von Zahncremes kommen auf den Geschmack. In Zahnpasten dominiert heute oft das Aroma der Minze, um das bittere Aroma der bisher verwendeten Tenside zu übertönen. „Rhamnolipide sind geschmacksneutral und bereits in ersten Zahncremes im Einsatz, wodurch eine größere Flexibilität in der Formulierung ermöglicht wird“, so Lisa Maus.
 

Neue Anwendungsgebiete
Dreht sich in diesen Anwendungen noch alles weitgehend um Reinigung, halten die Rhamnolipide nun auch Einzug auf Märkten, die auf den ersten Blick erstaunlich klingen. Zum Beispiel auf dem für Farben und Lacke. „Sie sind ein exzellentes Benetzungsmittel für Farbpigmente in wässrigen Formulierungen“, erläutert Katina Kiep, bei Evonik Leiterin des Marktsegments Decorative Coatings, „und damit eine umweltfreundliche Alternative zu klassischen Tensiden, die eine hervorragende Farbstärke ermöglicht. Evonik wird seinen Kunden das Produkt unter dem Namen TEGO® Wet Terra anbieten.”

Neben diesen schon erhältlichen Produkten bahnen sich die Evonik-Forscher Wege zu weiteren Einsatzgebieten. „Viele Eigenschaften von Rhamnolipiden sind im Labor getestet und in der Literatur belegt“, sagt Lisa Maus, „wir erforschen nun, ob dies auch für unser Produkt gilt und welche weiteren unentdeckten Eigenschaften wir uns zu Nutze machen können.“ Interessantes Potenzial hat etwa der Einsatz in der Pharmaindustrie. Wenn beispielsweise pharmazeutische Wirkstoffe durch Rhamnolipide besser löslich werden, kann dies zu einfacherer Formulierbarkeit und höherer Bioverfügbarkeit führen.

Forschung geht weiter
Dieselbe Eigenschaft kann den Ersatz von Lösungsmitteln durch Wasser bei der Synthese von Wirkstoffen ermöglichen und damit die Herstellung nachhaltiger machen. „Hier ist noch viel Forschung nötig“, so Hans Henning Wenk, Forschungs-Chef des Geschäftsbereichs Health Care von Evonik. „Auch die Schritte zur Zulassung sind in diesem Bereich besonders anspruchsvoll. Doch die Aussicht auf einen bedeutenden Schritt zu mehr Nachhaltigkeit in der Pharmaindustrie ist hochinteressant.“

Selbst Pflanzen könnten von den Eigenschaften der Rhamnolipide profitieren. Da die Biotenside ungiftig und zu 100 Prozent biologisch abbaubar sind, können sie auch auf Feldern versprüht werden. Pflanzen, die mit Rhamnolipiden behandelt werden, sind widerstandsfähiger gegen bestimmte Arten von Pilzbefall. Kartoffel-, Obst- und Weinbauern, die oft mit Pilzbefall ihrer Gewächse zu kämpfen haben, hätten ein natürliches Gegenmittel.

Auch Geflügelzüchter könnten profitieren. Für sie sind vor allem mögliche positive Eigenschaften wie eine Verbesserung der Darmbeschaffenheit und Nährstoffaufnahme durch Rhamnolipide im Futter interessant. Der Einsatz im Futter könnte so dazu beitragen, die Tiere nachhaltig gesund zu erhalten und das Wachstum der Tiere zu verbessern. 

Ideen im Sprinttempo
Die Eroberung der neuen Welten hat jedenfalls gerade erst begonnen. Um weitere Anregungen zu bekommen, veranstaltete Evonik Anfang des Jahres einen „Ideation Sprint“, bei dem alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ideen für neue Einsatzgebiete der Rhamnolipide einreichen konnten. „Die Resonanz war beindruckend, da haben wir sehr viele sehr gute Ideen gesammelt“, zieht Lisa Maus Bilanz. Die eingereichten Ideen werden jetzt weiterverfolgt.  „Im ersten Schritt schauen wir uns an, welche besondere Eigenschaft des Tensids wir nutzen wollen und entscheiden dann, ob uns das einen Wettbewerbsvorteil bietet.“

Diese weißen Flächen auf der Landkarte der Biotenside heißen folgerichtig „White Spaces“ und sollen in den nächsten Jahren mit Hilfe des strategischen Innovationscenters Creavis Schritt für Schritt erforscht werden. Einsatzgebiete könnten industrielle Anwendungen sein, bei denen die Rhamnolipide Produkte aus fossilen Quellen ersetzen. Auch die Erforschung neuer Moleküle ist geplant. „Die Möglichkeiten, die sich über die heutigen Anwendungen hinaus anbieten, sind erstaunlich“, umreißt Lisa Maus die Bandbreite des Weges in die neue Welt, der in Slovenská Ľupča beginnt.